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Wir befinden uns in einem nicht mehr ganz neuen Kunstraum, der 2020, mitten im Coronajahr, gegründet wurde, und der sich „SIE SIND HIER“ nennt. Man hört bei diesem ungewöhnlichen Namen fast ein bisschen das Erstaunen heraus, als ob die Betreiberin des Kunstraums, Claudia R Picht, es selbst nicht so recht glauben kann, tatsächlich wieder hier zu sein. Sie war hier nämlich schon einmal zu Hause, hatte hier einmal ihr Atelier, einmal einen Besprechungsraum bevor dieser sehr besondere Raum mit der dunklen, in Trompe-l'œil Manier gefassten Stuckdecke bereits in den Jahren 2009 - 2019 von Ulrike Jagla-Brandenburg als Kunstraum genutzt wurde.
Als jemand, dessen künstlerisches Denken sehr stark von Joseph Beuys und seiner Idee der Sozialen Plastik geprägt ist, hat Claudia R Picht ein hochentwickeltes Bewusstsein für Orte und deren unmittelbare Bedeutung als Lebensraum. 1986 entstand ihre erste „Humane Skulptur“ mit dem Café Schmitz, der kurz darauf mit der Übernahme der Filmpalette die „Humane Skulptur II“ folgen sollte. SIE SIND HIER ist infolgedessen die „Humane Skulptur III“. Nach einem rigorosen biografischen Schnitt Ende der 1980er Jahre kehrt der Raum nach über 30 Jahren wieder zu Claudia R Picht zurück. Ein Lebensweg, der Haken schlägt, in eine völlig neue Richtung aufbricht, zu neuen Horizonten, und unvermutet wieder an den alten Ort zurückkehrt – dieses Unvorhersagbare und oft für die Betroffenen selbst Überraschende ist für die moderne Lebensführung unserer Zeit fast schon typisch geworden.
Abbrechen und wieder neu verbinden. Dieses Lebensthema überträgt Claudia R Picht in der von ihr kuratierten Ausstellung in einen Dialog zwischen fünf Positionen. Die bestehende Welt fragmentieren, um daraus neue Welten zu schaffen. Aus der Auflösung alter Zusammenhänge neue gestalterische Freiheiten gewinnen. Was auffällt, ist die hohe Komplexität der einzelnen Arbeiten. Die Nahsicht kann sich von der Fernsicht sehr stark unterscheiden, man wird herausgefordert, auf allerkleinste Details zu achten, so dass diese verhältnismäßig wenigen Werke in diesem kleinen Raum eine Explosion an Informationen und Sinneseindrücke bieten, bei dem das Schauen niemals zu einem wirklichen Ende kommt.
SEYLEE
Beginnen wir bei dem Jüngstem der Runde. SEYLEE wurde 1991 in Südkorea geboren und hat 2025 sein Studium an der KHM Köln abgeschlossen. SEYLEE arbeitet mit dem Anordnen und Neuordnen von Formen, für die er auch die Computertechnik einsetzt. Er zeigt, wie durch das Verschieben einfacher Elemente unglaubliche Veränderungen erzeugt werden können, wodurch wiederum deutlich wird, wie alles mit allem zusammenhängt. Dabei werden mathematische Berechnungen eingesetzt, aber für das manuelle Verschieben und Neu- Strukturieren ist dennoch meist ein hoher handwerklicher und zeitlicher Aufwand notwendig. In der Arbeit „A Boat on a River“ (2022 – 2024) hat SEYLEE eine stimmungsvolle Landschaftsfotografie in Schwarzweiß in Pixel zerlegt und diese am Computer so neu geordnet, so dass daraus das Bild einer Teetasse entstand. Dieser Vorgang nahm zwei volle Jahre in Anspruch.
Bei der 2024 entstandenen, achtteiligen Arbeit „Dot Line Surface“ wird in der strengen Reihung der konzeptuelle Zusammenhang der Arbeiten untereinander deutlich. Zunächst fällt auf, dass die unterschiedlichen farbigen Rahmungen den acht Farben im Bildinneren entsprechen, während die Linienzeichnung immer gleich bleibt. SEYLEE hat alle 8 Papiere mit demselben Lineament bedruckt, alle Einzelformen jeder Farbe mit dem Laser ausgeschnitten und bunt gemischt wieder in die Rahmen gesetzt. Obwohl alle 8 Bilder einen sehr homogenen Eindruck machen, haben sie eine völlig verschiedene Anordnung, da jedes Einzelelement immer nur einmal in einer der acht Farben vorhanden sein kann. Eine einzige Veränderung kann die Harmonie vollkommen aus dem Gleichgewicht bringen.
Stefanie Klingemann
(geboren 1977 in Moers) hat uns zwei Elemente aus ihrer Arbeit „Internationales Parkett“ von 2023 mitgebracht. Es handelt sich um eine variable Bodenskulptur aus Holzfragmenten mit individueller Herkunft. Die Künstlerin zerlegte ausrangiertes Mobiliar in schmale Streifen, die sie zu einem parkettähnlichen Muster zusammensetzte. Anstatt einer glatten Fläche entsteht eine reliefartige Struktur mit sichtbaren Spuren wie Scharnieren oder Griffen – Relikte der Geschichte der einzelnen Teile, die zusammen einen zwar holprigen, aber durchaus begehbaren Boden bilden.
Stefanie Klingemann besetzt als Künstlerin eine singuläre Position zwischen Performance, Theater, Installation, Film und Fotografie, bei der die Frage nach Inszenierung von Aufmerksamkeit eine große Rolle spielt. Der öffentliche Raum mit seinen jeweiligen Konventionen und Übereinkünften hält für die verschiedenen Nutzer verschiedene Regeln bereit. Mit „Internationalem Parkett“ meint der Sprachgebrauch eine Bühne, die zwar öffentlich, aber nur für bestimmte privilegierte Personengruppen zugänglich ist. In der formalen Umdeutung aus ausgemustertem „Sperrmüll“ erzählt jedes einzelne Holzstück etwas über Lebensverhältnisse, Status, Stil und die historische Zeit, aus der es stammt. Dem internationalen und gerne auch als „glatt“ gekennzeichneten Parkett, in dessen Glanz die darauf Wandelnden sich jeweils nur selbst bespiegeln, setzt die Künstlerin ein Puzzle aus Fragmenten gelebten Lebens, ein Muster an Vielfalt, Lebendigkeit und Wärme entgegen. Es zu beschreiten bedeutet, den Schritt vorsichtig zu setzen und sich der eigenen Basis bewusst zu werden. Zudem korrespondiert das Fußbodenfragment mit der Stuckdecke im Raum, deren illusionistische Malerei eine weitere Spielart sozialer Überhöhung von Räumen darstellt.
Nelleke Beltjens
(geb. 1974 in Roermond, Niederlande)
Für Nelleke Beltjens bedeutet der Schnitt vor allem Austausch. Sie arbeitet in Serien, so dass ein Fragment, das aus einem Gesamtgefüge herausgenommen wird, an einem anderen Ort, auf demselben oder einem anderen Blatt, wieder Eingang findet. Nichts geht verloren. Andererseits wird auch nichts Neues hinzugefügt. Aus dem vorhandenen Fundus heraus entwickeln sich komplexe, aber stark variierende Zustände, die in dynamischer Balance stehen. Der Gedanke eines nachhaltigen Umgangs mit begrenzten Ressourcen, die sich wie bei einem Stoffwechselprozess in einem ständigen Austausch befinden, liegt dieser Arbeit zugrunde.
Papier als Ausgangsmaterial bestimmt diese Arbeiten in mehrfacher Hinsicht. Nur Papier ermöglicht die intarsienartig eingefügten Ausschnitte und liefert gleichzeitig einen strahlend weißen, lichtreflektierenden Untergrund, der die leuchtende Transparenz der Aquarellmalerei und die feinen Strichelungen mit dem Tintenstift optimal zur Geltung bringt. „Suns and Moons of all Times (second series)“ #1 von 2021lässt viel weißen Raum frei, in dem die präzise gesetzten Formen aus Wasserfarbe wie Himmelskörper treiben. Zarte Linien aus zahllosen Stakkato-Strichen zeigen eine Bewegung an, die von den zahllosen Cuts eher eingefangen als unterbrochen wird. Durch den Parallaxeneffekt, also die scheinbare Bewegung eines Objekts beim Wechsel des Blickwinkels, entsteht tatsächlich der Anschein von Bewegung, wenn sich das Auge über das skulptural transformierte Papier tastet.
Die Notwendigkeit permanenter reversibler Entscheidungen wird durch die Cuts wie die Aquarellmalerei sinnfällig und stellt einen Zusammenhang zum wirklichen Leben her. Fließende Wasserfarbe versinnbildlicht den „Flow of life“, während der Cut eine abrupte, aber notwendige Unterbrechung darstellt. Nelleke Beltjens bezieht sich in ihrer Arbeit explizit auf die Komplexität des Lebens. Mit jeder Entscheidung werden die Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen und dem Gesamtzusammenhang gefestigt. Jeder noch so kleine Schritt hat Folgen für das Gleichgewicht der Kräfte. Der Schnitt bleibt immer sichtbar. Keine Handlung lässt sich verbergen. In dieser hohen Verantwortlichkeit liegt die eigentliche Freiheit. Ist ein Werk fertig, hat eine Transformation auf der Grundlage größtmöglicher Freiheit der eigenen Entscheidungen stattgefunden.
Thomas Kemper
(geb. 1957 in Steinfurt)
Die Arbeiten von Thomas Kemper sind mit denen von Nelleke Beltjens verwandt, gleichzeitig aber diametral verschieden. Während bei Beltjens die Bewegung nach außen diffundiert und sich im Geiste bis in unendliche Weiten fortsetzen lässt, bleibt bei Thomas Kemper die Form trotz aller Schnitte in einem festen Verbund eingefasst, der sich zum Umraum deutlich abgrenzt. Auch Kemper arbeitet auf Papier und spielt mit Hilfe von Schnitten komplexe Beziehungsmöglichkeiten durch. Dabei geht es aber nicht um Ausschnitte, sondern um einen rigorosen Schnitt durch die gesamte Fläche, wodurch das bereits Entstandene in zwei Hälften „zerbricht“. An dieser Stelle entscheidet der Künstler, mit welcher der beiden Hälften er weiterarbeitet. Weiterarbeiten bedeutet, an den Schnittkanten neue Fragmente anzusetzen. Diese können auch aus älteren Arbeiten herrühren und so beispielsweise eine ganz andere Farbstimmung miteinbringen, die im weiteren Arbeitsprozess wieder ausbalanciert werden muss.
Obwohl Kemper mit sehr flüssiger, malerisch bewegter Farbe arbeitet, handelt es sich nicht um Aquarell-, sondern um Acrylfarbe, die sich beim Übermalen nicht anlöst und so das Arbeiten in übereinandergelegten Lasuren ermöglicht. Bei den beiden Arbeiten in der Ausstellung, beide in diesem Jahr entstanden, ist der reine Weißton des Papiers verschwunden zugunsten feinster malerischer Form- und Farbsensationen. Die gestische Malerei bringt die Bewegung, und damit das Emotionale und das Körperliche mit ein. Thomas Kemper beschäftigt sich seit Jahren mit asiatischen Bewegungslehren und dem Wahrnehmungstraining körperlicher Strukturen von Moshe Feldenkrais. Die Körpererfahrung fließt in die Malerei ein. Jedes Fragment ist in sich schon hochkomplex und potenziert sich im Verbund zu einem vibrierenden Gefüge, dessen Stabilisierung von dem Zusammenspiel der individuellen Teile abhängt. Zudem festigt die fast geometrische Außenkontur der ungerahmten, plastisch sich von der Wand abhebenden Arbeiten den inneren Zusammenhalt.
Claudia R Picht
Bei Claudia R Picht geht es um Transformation. Auch sie arbeitet mit ausrangiertem, aber symbolisch höchst aufgeladenem Material. Geldscheine unterliegen an sich permanenter Transformation. Der erste Schritt ist die wundersame Verwandlung von Papier in einen Geldwert, der sich bis zu 1.000 DM pro Schein steigern kann. Durch die Einführung des Euros erlbten die DM-Scheine plötzlich ihre Entwertung und erlebten eine erneute Transformation beim mechanischen Schreddern in kleinste Schnipsel. Claudia R Picht „spielt“ mit diesen Schnipseln, wie sie selbst sagt. Es entstehen mandalaähnliche Objekte von großer Zartheit und Leichtigkeit.
Blütenähnliche „Sonnen“, die an der Wand zu schweben scheinen, oder die beiden ganz neu entstandenen Objekte, Schwebende Humane Skulptur I und Schwebende Humane Skulptur I & II, die tatsächlich „über den Dingen“ schweben. Diese sanft rotierenden Objekte tragen jeweils ein Relikt aus dem früheren Leben von Claudia R Picht in sich: Bierdeckel bzw. Streichholzschachteln mit dem Signet des Café Schmitz und der Filmpalette, also der Humanen Skulpturen I und II. Die Künstlerin löst mit ihrer Arbeit die Schwere und Tragweite, die Geld für die menschliche Existenz im Allgemeinen bedeutet, durch immer weitere Stufen der Transformation auf bis an die Grenze zur Immaterialität. Das Materielle an sich erfährt stufenweise eine Entladung, es verliert sein Gewicht und verwandelt sich in einen Gegenstand der Schönheit und Kontemplation.
Sabine Elsa Müller